Ein Jugendlicher aus Guinea und sein Betreuer - Geschichte einer Spurensuche
VON MARTINA PETERS
Ich habe Brot gebacken. Gewagt, ich weiß. Wo doch gleich ein Bäckergeselle zum Interview kommt. Mit seinem Betreuer. Aber es ist früher Abend und ich dachte mir: Sie werden Hunger haben. Was Abdoulaye angeht, stimmt das. Aber er hat vorgesorgt und sich einen Burger am Bahnhof geholt, den er zu essen beginnt. „Kein Problem, dann fange ich eben mit unserer Geschichte an...“, sagt Daniel. Der kleine Moment prägt ihre besondere Beziehung: Daniel ist für Abdoulaye da, wenn dieser gerade nicht weiterweiß oder weiterkann. Immer.
Daniel Wieczorek ist sehr entspannt. Was der 38-Jährige im Laufe des Abends erzählt, scheint für ihn nichts Besonderes zu sein. Sein Job halt.
Daniel ist Erzieher. Nach der Schule macht er seine Ausbildung in Koblenz, danach absolviert er den Zivildienst in Düsseldorf. In der WG, in der er wohnt, lernt er jemanden kennen, der bei der outback stiftung arbeitet. Als dieser von seiner Arbeit erzählt, ist Daniel sofort begeistert. „Das will ich auch machen,“ beschließt er und landet so direkt nach seiner Ausbildung als freier Erzieher bei dem Düsseldorfer Jugendhilfeträger. Er beginnt mit Vertretungen, übernimmt schon bald seine ersten Fälle. Bis heute ist er outback treu geblieben. „Die Arbeit mit den Jugendlichen ist genau das, was ich immer machen wollte. Mein Antrieb, Erzieher zu werden, kam aus dem Wunsch heraus, mit Menschen zu arbeiten, sie da abzuholen, wo sie gerade stehen und sie bestmöglich zu unterstützen. Dieses individualpädagogische Arbeiten begeistert mich bis heute.“ Daniel ist in der ambulanten und stationäre Betreuung von Jugendlichen aktiv, arbeitet für outback in der Elternberatung, beim Kinderschutz, macht aufsuchende Arbeit als Streetworker, begleitet und unterstützt ganze Familien und einzelne Jugendliche bei Drogen-, Schul- und sonstigen Problemen. Und er betreut Jugendliche „ambulant“ in deren eigener Wohnung. Wie eben Abdoulaye. Daniel hat mittlerweile selbst zwei Kinder, heute acht und elf Jahre alt.
Der 21-Jährige ist klein, zierlich. Und doch sehr muskulös. Er lacht oft. Was die Menschen in seinem Umfeld umso mehr freuen dürfte, die wissen, dass in den letzten Jahren nun wirklich nicht viel zu lachen hatte.
Ende 2010, mit 14 Jahren flieht Abdoulaye aus Guinea, Westafrika. Es gibt viele Gründe für ihn, diesen Weg zu gehen. Der junge Mann will mehr, er will eine Perspektive. Und er träumt von einem besseren Leben in Sicherheit.
Abdoulaye hört von Deutschland und beschließt, seine ganze Kraft aufzuwenden, um dort neu anzufangen – koste es, was es wolle. Er flieht aus Guinea an der Atlantikküste entlang über Westafrika nach Nordafrika nach Deutschland. Zwei Jahre lang dauert seine Odyssee. Seine Familie weiß nichts davon – und er soll die nächsten acht langen Jahre lang nichts mehr von ihr hören...
Über seine Flucht möchte Abdoulaye nicht sprechen. Nur so viel, dass es absolut unvorstellbar, sehr schlimm war. Er schafft es schließlich, landet am Heiligabend 2012 – mittlerweile 16 Jahre alt – in Deutschland. Doch auch hier fängt es nicht gut an. Da er keinen gültigen Pass hat, wird er zunächst verhaftet. Das Jugendamt bringt ihn im Liddy-Dörr-Haus in Kaiserswerth unter. Acht Monate lebt er dort mit zwei anderen Jugendlichen in einer Verselbstständigungs-WG, lernt Deutsch. Immer wieder versucht er, seine Mutter zu erreichen, sucht sie über das internationale Rote Kreuz. Aber alle Versuche schlagen fehl.
Liddy-Dörr-Haus
Das Liddy-Dörr-Haus ist eine Einrichtung der Kaiserswerther Diakonie, die erste Anlaufstelle für männliche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Alter von 14 bis 18 Jahren. In der Regel bleiben die Jugendlichen nach ihrer Ankunft in Deutschland drei Monate in der Clearingeinrichtung. Während des Clearingverfahrens werden die ausländerrechtliche und die psychische Situation der Jugendlichen durch das Clearingteam festgestellt. In der Betreuung durch das interdisziplinäre Team werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zu den notwendigen Terminen beim Einwohnermeldeamt, bei der Ausländerbehörde und beim Schulamt begleitet. Sollte eine sofortige Einschulung nicht gegeben sein, dann nimmt der Jugendliche am täglich stattfindenden hausinternen Deutschunterricht teil. http://bit.ly/2Fu6TnJ
Die Clearingstelle des Liddy-Dörr-Hauses vermittelt Abdoulaye 2013 an outback für die weitere Betreuung. Daniel wird der so genannte Bezugsbetreuer für Abdoulaye in seiner WG, sorgt dafür, dass Abdoulaye zur Schule gehen kann – zunächst auf das Albrecht-Dürer-Kolleg in Heerdt und später auf das Elli-Heuss-Knapp Berufskolleg. Auch auf seinem weiteren Weg unterstützt er den jungen Mann. Abdoulaye kann ein Praktikum bei einem Bäcker machen, absolviert erfolgreich seinen Schulabschluss und beginnt in Neuss eine dreijährige Ausbildung zum Bäcker. Im Herbst 2017 wird der mittlerweile 21-Jährigen als Bäckergeselle übernommen. „Die Arbeit ist gut, macht mir viel Spaß. Ich bin froh, dass ich einen Job habe,“ freut sich Abdoulaye.
Und das „mehr wollen“ geht weiter bei Abdoulaye. Er will noch selbstständiger werden – mit Daniels Unterstützung. Im Sommer 2016 zieht er in seine erste eigene Wohnung nach Bilk, hier betreut Daniel ihn noch ein Jahr weiter, bis der junge Guineer ganz auf eigenen Füßen stehen kann.
Aus dem ungleichen Paar Flüchtling/Betreuer sind über die Jahre Freunde geworden. Was schätzen, bewundern sie aneinander?
Abdoulaye: „Ohne Daniel hätte ich es nicht geschafft. Er hat mir bei allem, einfach allem geholfen, als ich hier ankam. Ob Aufenthaltsgenehmigung, Schule, Praktikum, Ausbildung, Wohnung, Krankenhausaufenthalte wegen mehrerer Operationen, Geld, Therapie (Anmerkung der Redaktion: Behandlung wegen des starken Fluchttraumas) – Daniel war immer und jederzeit für mich da. Er ist mittlerweile ein sehr guter Freund. Er macht mehr als einfach nur seinen Job. Da ist unheimlich viel, wie sagt man... Vertrauen!“
Daniel: „Was toll und ungewöhnlich ist an Abdoulaye, ist seine absolute Zielstrebigkeit, seine Motivation. Er wollte es unbedingt schaffen, er wollte immer mehr. Seine zwei Jahre dauernde, unsagbar schwierige Flucht hat ihm sehr viel Durchhaltevermögen abverlangt und das hat er hier in Deutschland genutzt, um dahin zu kommen, wo er jetzt ist. Er hat immer an seinen Zielen gearbeitet und musste früh selbständig sein. Das bewundere ich sehr. Er konnte einfach unheimlich gut jede ihm zur Verfügung stehende Hilfe annehmen, von mir, von outback, aber auch von seiner Therapeutin, vom Jugendamt und, und, und.... Das Hilfeangebot für Abdoulaye war einfach sehr passend, aber er hat auch super mitgemacht, sonst hätte das nicht funktioniert. Davon abgesehen hat sich Abdoulaye auch persönlich enorm weiterentwickelt. Als ich ihn kennenlernte, war er – sicherlich auch noch als unmittelbare Folge der Fluchterfahrungen – extrem introvertiert, ängstlich, zurückhaltend und litt unter starker Schlaflosigkeit. Heute geht’s ihm viel besser und er ist anderen Menschen gegenüber richtig aufgeschlossen.“
Der Jahreswechsel 2017/ 2018 beginnt aufregend für Abdoulaye. Er hat immer wieder den dringenden Wunsch geäußert, seine Familie in Guinea wiederzufinden und nun soll es soweit sein. Abdoulaye fliegt Silvester 2017 zunächst allein nach Guinea, vier Tage später kommt Daniel nach. Mehrmals hatte der junge Guineer versucht, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen, auch über das Internationale Rote Kreuz. Aber alle Bemühungen blieben erfolglos, denn in seiner Heimatgegend gibt es weder Internet noch Handyempfang, keine Straßennamen, keine Hausnummern. Zum Glück weiß er, dass seine Tante in der Hauptstadt Conakry wohnt und hat so eine erste Anlaufstelle. Über sie erhält er endlich Kontakt zu seiner Mutter und telefoniert das erste Mal seit acht Jahren wieder mit ihr – ein bewegender Moment für Abdoulaye.
Als Daniel kommt, fahren sie gemeinsam die acht Stunden und 250 Kilometer lange Strecke nach Mamou. Dort wohnt seine Mutter. Auf der gemeinsamen Reise sind die Rollen der beiden Männer auf einmal vertauscht. Nicht Daniel kümmert sich – wie sonst – sondern Abdoulaye. Er organisiert die Reise mietet eine Wohnung an, dolmetscht, damit Daniel die Familienmitglieder, die Fula sprechen, verstehen kann. „Ich habe erwartet, dass alles schwierig wird und auch befürchtet, dass wir die Familie nicht finden und unverrichteter Dinge wieder heimfliegen müssen. Aber dann war alles ganz einfach. Abdoulaye hat alles problemlos organisiert. Als wir ankamen, hat Abdoulayes Mutter vor Glück geweint und gar nicht wieder aufgehört. Sie wusste ja all’ die Jahre gar nicht, ob ihr Sohn überhaupt noch lebt! Es war schon sehr, sehr emotional, das mitzuerleben. Und die Gespräche mit der Familie und auch mit den anderen Jugendlichen über die Gründe für Fluchtgedanken schärfen den Blick auf die Flüchtlingskrise. Alle haben gesagt: Ja, Abdoulaye hat es richtig gemacht.“
Vier Wochen später sind Daniel und Abdoulaye wieder in Düsseldorf. Die Stadt ist für den jungen Guineer schon ein bisschen zur zweiten Heimat geworden. Die Unterschiede zu Guinea sind ihm dennoch jeden Tag bewusst „Bei uns zuhause ist man nie allein oder einsam, immer sind die Familie oder die Freunde um einen. Das ist hier in Deutschland leider nicht so,“ vergleicht Abdoulaye seine Heimat mit der Wahlheimat. „Hier sind die Leute mehr für sich. Dafür gibt es hier vieles anderes, was das Leben besser macht: Job, Krankenversicherung, Unterstützung, Rente, Sicherheit – und besseres Brot!“ Abdoulaye lacht sein breites Lachen. Er möchte gern weiter in seinem Job arbeiten und eine Familie gründen, am liebsten schon bald...
Ich bitte Abdoulaye, zurückzublicken auf seine letzten acht Jahre. Wenn er gewusst hätte, was auf ihn zukommt – würde er aus heutiger Sicht wieder fliehen? „Nein. Auf keinen Fall. Wenn ich auch nur geahnt hätte, wie schlimm die beiden Jahre auf der Flucht waren, hätte ich es ganz bestimmt nicht gewagt,“ sagt der 21-Jährige.
Aber nun ist er ja hier. Spricht schon ganz gut Deutsch, ist gelernter Bäcker, hat einen Job, der ihm gefällt und eine eigene Wohnung. Abdoulaye wollte mehr. Und er hat mehr geschafft. Auch dank Daniel, mit dem er zudem einen sehr guten Freund gewonnen hat. Die Betreuung wurde zwar im September 2017 offiziell beendet, aber die Freundschaft bleibt. Die beiden schauen sich an, nicken und lächeln. „Wir bleiben in Kontakt,“ bestätigt Daniel.
Ganz zum Schluss freue ich mich. Abdoulaye will mehr essen, probiert dann doch noch von meinem Brot. Und? Er strahlt und nickt. Es schmeckt ihm. Da bin ich aber erleichtert....
Jugendliche unterstützen
Für die Betreuung Jugendlicher gibt es bei outback viele verschiedene flexible, stationäre und ambulante Hilfsangebote. Ob in einer Sozialpädagogischen Lebensgemeinschaft (SPLG), einer Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge oder in einem individualpädagogischen Projekt, ob im Rahmen der Betreuung in der Familie, im Umfeld, am selbstgesuchten Wohnort oder im eigenen Wohnraum der Jugendlichen, als Tandembetreuung oder sozialpädagogische Familienhilfe – die Fachkräfte setzen alles daran, ihre pädagogischen Konzepte mit prallem Leben zu füllen. Sie sind Meister im Zuhören und kümmern sich kompetent und engagiert um die Sorgen und Nöte der hilfebedürftigen jungen Menschen.