Erkenntnisse aus der Bindungsforschung

Erkenntnisse der Bindungsforschung in der Heimerziehung Bindung in der Heimerziehung von Dipl.-Psych. Sven Unkelbach

Jugendhilfe – Erkenntnisse aus der Bindungsforschung
Erkenntnisse der Bindungsforschung in der Heimerziehung


„Zuerst Sicherheit, dann Autonomie“.

In den letzten Monaten, seit der Novellierung des SGB VIII, ist dem Wort ,,Partizipation“ viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Den Kindern und Jugendlichen soll die Möglichkeit gegeben werden, sich aktiver und selbstständiger in die Betreuung mit einzubringen. Somit wird das partizipative Verhalten der Kinder und Jugendliche zu einem obligatorischen Bestandteil des neuen SGB VIII.

Was bedeutet dies aber für die Kinder und Jugendlichen? Wird von ihnen nun grundsätzlich aktive Teilhabe verlangt, trotz ggf. existierenden Störungen im Bereich der Bindungsfähigkeit und Autonomie? Und inwieweit hilft es den betreuten Kindern und Jugendlichen bei ihren Entwicklungsprozessen?

Dipl.-Psych. Sven Unkelbach befasst sich in seinem Forschungsbericht ,,Bindung in der Heimerziehung“ (2021) genau mit dieser Thematik. Unkelbach entwickelte ein Konzept für eine neue stationäre Wohngruppe, welches besagt, „[…], dass eine bindungsorientierte Ausrichtung neben einer systematischen Grundhaltung ein zentraler Stützpfeiler der fachlichen Arbeit werden soll(te)“. Das Wohngruppenkonzept für Kinder mit ,,unsicheren Bindungsstrukturen“ wird von Psychologen (Bindungstherapeuten) und SAFE-Mentoren begleitet, um die Gewährleistung des bindungsorientierten Konzeptes sicherzustellen. Die Zielsetzung besteht in erster Linie darin, das Bindungssystem der Kinder zu beruhigen und ihnen das Gefühl von Sicherheit und klarer Orientierung zu geben. Die betroffenen Kinder kommen aus Haushalten ohne konstante Bezugsperson oder von abweisenden/abwesenden Eltern. Neben einem strukturierten Alltag, Klarheit, Verlässlichkeit und Sicherheit, sagt Unkelbach, ist es von großer Notwendigkeit von den Kindern „[…] eher zu wenig als zu viel Autonomie zu verlangen“. Infolgedessen ist Partizipation, im Kontext der Teilhabe an der Betreuung, genau die Eigenschaft, die Unkelbach zunächst kritisch begutachtet. Autonomie kann dann herrschen, wenn ein „[…] stabiles und sicheres Fundament“ existiert und solch ein Fundament kann eben nur bestehen, wenn es eine ausgearbeitete Grundsicherheit und Grundstruktur gibt.
Die Kinder sollen selbstverständlich auch die Möglichkeit erhalten, sich frei entfalten zu können und unstrukturiert zu handeln, jedoch muss garantiert werden, dass die Anleitung und Organisation des Erwachsenen dominiert, damit sichergestellt wird, dass sich die Kinder bei Druck und Krisenmomenten an eine Bezugsperson wenden können, die ihnen wieder Struktur und Sicherheit bietet. Durch das Wahrnehmen der ‚Erwachsenenfunktion‘ kehrt die innere Ruhe und das Gefühl von Sicherheit, im Idealfall, zurück.

„Kind sein sollte bei ihr bedeuten, sich keine Gedanken, um Erwachsenenthemen zu machen, nicht bei den Entscheidungen der Erwachsenen mitwirken zu wollen und insbesondere nicht selbst Entscheidungen, die eigentlich auf Erwachsenenebene zu treffen sind, allein zu treffen.“
(Fallbeispiel eines 7-jährigen Mädchens in der stationären Wohngruppe von Dipl.- Psycho. Sven Unkelbach)

Zudem ist es von großer Wichtigkeit zu beachten, dass am Anfang der bindungsorientierten Arbeit davon ausgegangen werden muss, dass das „Stress-Toleranz-Fenster“ nicht genügend ausgeweitet ist. Somit sind schon die kleinsten Anforderungen, seitens der BetreuerInnen, eine enorme Herausforderung und führen zur kompletten Ablehnung und Verweigerung. Durch die bindungsorientierte Arbeit werden die individuellen Ausbrüche aufgearbeitet und in Zukunft entsprechend gehandhabt. Unkelbach gibt an, dass die eigentliche Schwierigkeit darin besteht, Anforderungen zu stellen, die zwar herausfordernd sind, aber mithilfe der Erwachsenen gerade noch erfüllt werden können.
Im Laufe der stationären Betreuung wird es grundsätzlich nicht möglich sein, dass die Kinder keine Beziehung zu den Erwachsenen entwickeln, da die Bindung ein „[…] existenzieller Überlebensmechanismus, ein Urinstinkt“ ist. Eine distanzierte Bindung zum Kind wird auch als solche wahrgenommen. Das hat zufolge, dass die Kinder wieder in das übliche Denkmuster fallen, dass sie sich, wie bisher, allein um alles kümmern müssen. Es ist also ausschlaggebend - für eine funktionierende Beziehungsarbeit - dass der Erwachsene sich auf das Kind einlassen muss und den oben erwähnten Urinstinkt nutzen soll, um dem Kind dabei zu helfen, eine gesunde Beziehung zu Erwachsenen bzw. Bezugspersonen zu entwickeln. Es muss aber bedacht werden, dass die Mitarbeiter keine emotionale Distanz zum Kind einhalten können, sodass die Herausforderung in erster Linie darin besteht, in schwierigen Situationen nicht von den Emotionen geleitet, zu handeln.
Für das Kind hingegen stellt die Situation ‚verlassen werden‘ die Herausforderung dar. Wenn zum Beispiel die MitarbeiterInnen die stationäre Einrichtung verlassen muss, aufgrund verschiedenster Gründe. Solche abrupten Enden müssen in einem sanften Übergang geschehen, damit sich das Kind mental auf die Veränderung einlassen kann und es nicht zu einem Rückfall des Entwicklungsprozesses kommt, z.B. durch die Verlängerung von Kündigungsfristen, organisierte Übergänge und das nicht gestatten von kurzen Praktika etc.

„Eine gute Strategie besteht darin, aus ‚Abbrüchen‘ eher gut gerahmte ‚Übergänge‘ zu machen. Dies erfordert natürlich, dass alle Entscheider diesem bindungsorientierten Gedanken einen hohen Wert beimessen.“

Wir haben also zum einen den Partizipation-Gedanken, welcher von den Kindern und Jugendlichen verlangt, sich aktiv an der Betreuung bzw. am Entwicklungsprozess zu beteiligen. Zum anderen haben wir das Konzept der bindungsorientierten Arbeit, durch dass das Kind lernt, sich auch mal auf die Erwachsenen zu verlassen, sich bei ihnen in Sicherheit zu ‚betten‘ und ihnen die „Erwachsenenthemen“ zu überlassen. Also ganz nach dem Eingangszitat: „Zuerst Sicherheit, dann Autonomie“.

Wie stehen Sie dazu? Tut sich das SGB VIII einen Gefallen damit in autonome Teilhabe in allen Bereichen einzufordern? Eine kritische Betrachtungsweise und ein kontroverser Dialog dürfen keinesfalls zu kurz kommen.

Quelle: Bindung in der Heimerziehung von Dipl.-Psych. Sven Unkelbach, S.589 ff.

Datenschutzhinweis
Diese Website verwendet Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Durch die weitere Nutzung der Website stimmen Sie dem zu. Weitere Infos zu unseren Datenschutzinformationen sowie Cookies und deren Deaktivierung finden Sie hier.